(ein Artikel aus dem Jahr 1999)
Es ist meiner Meinung nach ein Gerücht, daß jeder vor dem Gesetz gleich ist. Die Praxis sieht da anders aus. An folgendem kleinen (fiktiven) Beispiel soll das Prinzip „Recht zweiter Klasse“ veranschaulicht werden:
Eine Telefongesellschaft hat Forderungen gegen einen Kunden. Dem wurde das Handy gestohlen. Der Dieb telefonierte bis zur Sperrung des Gerätes 4 Stunden mit Ghana und Tonga (oder einem beliebigen anderen Land), was einen Rechnungsbetrag von 1900 DM ausmacht. Der Kunde weigert sich zu zahlen und wird verklagt.
Im Regelfall wird der Kunde in einem solchen Fall keine Chance haben aus folgenden Gründen:
- Die Telefongesellschaft ist größer. Sie hat die Vertragsbedingungen gemacht in Form von allgemeinen Geschäftsbedingungen. Allgemeine Geschäftsbedingungen und die Rechtsprechung dazu sind kompliziert.
- Die Telefongesellschaft hat solche Prozesse schon hunderte von Malen geführt. Ihre Anwälte kennen alle möglichen und unmöglichen Tricks, Einwendungen und rechtlichen Probleme derartiger Fälle.
- Die Telefongesellschaft und deren Anwälte verfolgen wegen der großen Anzahl derartiger Streitfälle ständig die aktuelle Rechtsprechung in diesem Bereich.
- Die Telefongesellschaft und deren Anwälte können es sich leisten, zur Not auch SEHR VIEL Zeit und Geld aufzuwenden, um die Ansprüche durchzusetzen.
- Juristische Arbeiten wie prozessuale Schriftsätze werden besser und damit erfolgreicher, wenn dafür ausreichend oder sogar viel Zeit aufgewendet werden kann (dies ist für mich einfach eine Erfahrungstatsache, die sicherlich jeder Jurist ohne Eigennutz bestätigen wird). Die Arbeitsweise ist gleichzeitig zügiger und damit zeitsparender, wenn der Anwalt ein Problem bereits mehrfach und in allen denkbaren Varianten bearbeitet hat.
- Bessere Schriftsätze und qualifiziertere juristische Leistungen vergrößern die Chancen in einer gerichtlichen Auseinandersetzung bei gleichen Sachverhalten so gravierend wie nichts anderes in der Juristerei.
Wenn solchermaßen der geprellte Kunde der Telefongesellschaft -wie bei einem derartigen Fall sicherlich häufig- seinen Hausanwalt (zum Beispiel einen Einzelanwalt ohne besondere Spezialisierung in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung) aufsucht, kann Folgendes passieren:
- Der Anwalt hat das erste Mal in seinem Berufsleben einen derartigen Fall. Er beschließt, das Mandat zu übernehmen, obwohl er sich aller Voraussicht nach nie wieder mit derartigen Verträgen beschäftigen und an diesem konkreten Mandat nach den gesetzlichen Regelungen der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung maximal 600 DM brutto einschließlich Umsatzsteuer erlösen wird.
- Der Anwalt stellt fest, daß er der 17 Seiten umfassenden Klageschrift mit Angabe zahlreicher Literatur und Rechtsprechung zur Zeit rechtlich nichts entgegenzusetzen hat. Er beschließt, vor Abfassung der Klageerwiderung die Bibliothek der FU-Berlin aufzusuchen.
- Denn die erforderliche Literatur, zum Beispiel ein Kommentar zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, ist aus Kostengründen (kostet ca. 250 DM) in der Kanzlei unseres wackeren Anwaltes nicht vorhanden.
- Die Sache bleibt zunächst liegen. Der Anwalt muß auch seine Kanzleimiete zahlen und widmet sich zunächst lukrativeren Mandaten.
- Kurz vor Ablauf der Klageerwiderungsfrist schickt der Anwalt seinen Stationsreferendar in die Bibliothek, um wenigstens die im Schriftsatz der Gegenseite zitierten Fundstellen zu kopieren. Dies gelingt nur unvollständig; wichtige Literatur ist nicht greifbar.
- Daher beschränkt sich der Anwalt in guter Handwerkermanier darauf, das Wesentliche zu tun: Er trägt sehr sorgfältig den Sachverhalt aus der Sicht seines Mandanten vor und beschränkt sich ansonsten darauf, auf die „Sittenwidrigkeit“ der Vertragsbedingungen hinzuweisen. Damit hat dieser Anwalt all das getan, was nach den haftungsrechtlichen Pflichten und berufsrechtlich von ihm erwartet wird.
- Der zuständige Amtsrichter ist beeindruckt von den langen Ausführungen der Gegenseite und den vielen Fundstellen. Er verurteilt den Kunden antragsgemäß. Dieser legt aus Kostengründen keine Berufung ein.
- Erst 1 Jahr später erfahren Kunde und sein Anwalt aus der Presse, daß in gleichartigen Fällen das zuständige Landgericht die Klagen der Telefongesellschaft abgewiesen hat.
Nichts gegen den wackeren Anwalt des Telefonkunden. Er hat seinen Job ordentlich gemacht. Aber das reicht eben aus den eingangs dargestellten Gründen nicht. Und DARUM hat Recht bekommen eben auch etwas mit Ökonomie (Arbeitszeit, Stundensätzen, Literaturbeschaffung) zu tun.
Weil das so ist, wurde mir schon während der Ausbildung klar: Spezialisierung muß sein . Wenn in unserem Beispiel der Kunde zu einem „Telefonkundenanwalt“ gegangen wäre, so hätte er sicherlich wesentlich bessere Chancen gehabt, obwohl die ökonomischen Ressourcen immer noch sehr ungleich verteilt sind.
Und weil während meiner Ausbildung in den wilden 80er Jahren schon viele Juristen sich mit so lukrativen Spezialisierungen wie Kartellrecht, Gesellschaftsrecht o.ä. befassten, habe ich die Spezialisierung im Bereicht Mietrecht und Immobilienrecht gewählt. Dieses Rechtsgebiet gilt allgemein unter Anwälten und Juristen als notwendig (etwa 70 % aller Streitigkeiten vor deutschen Amtsgerichten sind Mietsachen). Aber wegen der zum Teil extrem niedrigen Streitwerte sind die gesetzlichen Gebühren gering und ein „Mietrechtler“ gilt daher als gebührenrechtlicher Hungerleider.
Dies führt dazu, daß Mietrecht erfahrungsgemäß zwar von fast jedem Anwalt „gemacht“ wird. Aber Kompetenz in diesem Bereich (und eine entsprechende Ausstattung mit Literatur, den unentbehrlichen Fachzeitschriften und jursitischen Datenbanken) lohnt sich eigentlich nur, wenn
- der Anwalt ständig in diesem Bereich zu tun hat
- und deswegen seine Arbeit schneller schafft und
- seinen Mandanten überdurchschnittlich häufig Erfolgserlebnisse „beschert“.
Beispiel: Allein der Etat an Fachliteratur (Zeitschriften, Kommentare, juristische Datenbanken) im Mietrecht und verwandten Gebieten unserer Kanzlei beläuft sich auf über 5000 DM jährlich. Fragen Sie doch mal Ihren Hausanwalt, ob er fünf mietrechtliche Fachzeitschriften abonniert hat (und liest) und ob er mehr als den Sternel (ein bewährtes Standardlehrbuch zum Mietrecht) im Regal zu stehen hat. Nichts gegen Ihren Hausanwalt, aber die Fakten sind in aller Regel nun einmal so.
Wenn Sie eine schönen alten Morgan® (eine englische Automarke, die ich als junger Mann mal ganz toll fand) haben, bringen Sie den auch nicht in die Werkstatt von Opel ® (und die nimmt einen Reparaturauftrag dieser Art auch zweckmäßigerweise nicht entgegen).
Berlin, 17.09.1999